Im November 1983, kurz bevor sein fulminanter Debütroman Am Anfang war das Meer in einem Nicht-Verlag, der Edition eines literaturverliebten Diskothek-Betreibers in Bogotá, erschien, zog Tomás González mit seiner Frau Dora und dem sechsjährigen Sohn Lucas aus ökonomischen Gründen in die USA. Nach einer ersten Phase in Miami lebten sie 16 Jahre lang in New York. Als Dora an MS erkrankte, kehrte González 2002 mit ihr nach Kolumbien zurück.
In der vorliegenden Auswahl von 13 Erzählungen wird dieser Lebensweg in gewissem Sinne literarisch nachgezeichnet: Nach der Berührung mit der nordamerikanischen Welt begibt sich González zurück an die Wurzeln seiner südamerikanischen Heimat. Das Spektrum seiner Themen und literarischen Mittel ist breit. Eine marginale Lokalnachricht in The Times Picayune (New Orleans) im Mai 1980 verwandelt der Autor in die unsterbliche Story von Carola Dicksons verrückter Ausfahrt, um die Welt zu retten. In der Geschichte des demenzkranken Don Rafael und dessen Frau Jesusita (›Reise an die Küste‹) beschert er uns, übrigens ohne sich dessen beim Schreiben bewusst gewesen zu sein, eine spannende Variation – die Umkehrung – des Orpheus-und-Euridike-Motivs. Manche Szenen in ›Ein unwahrscheinliches Grün‹ sind eines Samuel Beckett würdig. Und das abgeklärte, zugleich empathische Lächeln, mit dem González in ›Die Heimkehr der verlorenen Tante‹ das Lebenswandeln der Menschen verfolgt, hat er mit Tschechow gemein.
Tomás González gilt schon zu Lebzeiten als ein Klassiker der kolumbianischen Literatur. Einige der hier vertretenen Erzählungen sind dreissig Jahre alt und noch so frisch und spannend wie am ersten Tag. Damit haben sie V. S. Naipauls Messlatte fürs literarische Überleben – »Ist das auch in 20 Jahren interessant?« – bereits übersprungen.
